Artikel 4 des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten soll sicherstellen, dass die Grundsätze der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung auf Angehörige nationaler Minderheiten Anwendung finden.
Die Bestimmungen dieses Artikels sind allerdings im Gesamtzusammenhang dieses Rahmenübereinkommens auszulegen.
Artikel 4 [Gleichbehandlung und Gleichberechtigung]
- Die Vertragsparteien verpflichten sich, jeder Person, die einer nationalen Minderheit angehört, das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und auf gleichen Schutz durch das Gesetz zu gewährleisten. In dieser Hinsicht ist jede Diskriminierung aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit verboten.
- Die Vertragsparteien verpflichten sich, erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen einer nationalen Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern. In dieser Hinsicht berücksichtigen sie in gebührender Weise die besonderen Bedingungen der Angehörigen nationaler Minderheiten.
- Die in Übereinstimmung mit Absatz 2 ergriffenen Maßnahmen werden nicht als Diskriminierung angesehen.
Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung
Gleichheit, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung – Artikel 4 Absatz 1 des Rahmenübereinkommens bringt diese beiden Grundsätze in der klassischen Weise zum Ausdruck.
Die Gleichheit für dem Gesetz und das Verbot sachlich nicht gerechtfertigter Ungleichbehandlungen sind Grundpfeiler eines Schutzes nationaler Minderheiten, dessen Ziel das friedliche Miteinander verschiedener Volksgruppen in einem von Toleranz geprägten Staatswesen ist. Artikel 4 Absatz 1 des Rahmenübereinkommens entspricht dem innerstaatlich in Artikel 3 Abs. 1 GG als Grundrecht garantierten Gebot der Gleichbehandlung.
Gleichberechtigung als aktive Staatenverpflichtung
Artikel 4 Absatz 2 des Rahmenübereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten erforderlichenfalls zur Förderung der vollständigen und tatsächlichen Gleichheit zwischen den Angehörigen der Mehrheit durch angemessene Maßnahmen. Ähnliche Regelungen enthalten beispielsweise das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979 (Artikel 3 CEDAW) und das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (Artikel 2 Abs. 2 CRC).
Artikel 4 Absatz 2 des Rahmenübereinkommens betont, dass die Förderung der vollständigen und tatsächlichen Gleichheit zwischen Angehörigen einer nationalen Minderheit und Angehörigen der Mehrheit es erfordern kann, dass die Vertragsparteien besondere Maßnahmen ergreifen, welche die besonderen Bedingungen der betroffenen Personen berücksichtigen. Diese Maßnahmen müssen ,,angemessen“ sein, das heißt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, damit nicht die Rechte anderer verletzt oder andere diskriminiert werden. Dieser Grundsatz verlangt unter anderem, dass solche Maßnahmen hinsichtlich ihrer Dauer oder ihres Umfangs nicht über das zur Erreichung des Zieles der vollständigen und tatsächlichen Gleichheit notwendige Maß hinausgehen.
Das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten enthält keine gesonderte Bestimmung, die eigens den Grundsatz der Chancengleichheit behandelt. Die Aufnahme einer solchen Bestimmung wurde als unnötig erachtet, da der Grundsatz schon in Artikel 4 Absatz 2 stillschweigend inbegriffen ist. Dies gilt in Anbetracht des in Absatz 1 genannten Grundsatzes der Nichtdiskriminierung auch für die Freizügigkeit.
Gleichzeitig stellt Artikel 4 Absatz 3 klar, dass die in Absatz 2 genannten aktiven Maßnahmen des Vertragsstaates nicht als Verletzung der Grundsatze der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung angesehen werden dürfen. Diese Bestimmung soll Angehörigen nationaler Minderheiten wie auch Angehörigen der Mehrheit tatsächliche Gleichheit garantieren.
Artikel 4 Absatz 3 stellt klar, dass Maßnahmen,die die Vertragsstaaten in Übereinstimmung mit Absatz 2 ergreifen, keine Diskriminierung sind. Dabei gewährleisten die in Absatz 2 genannten Voraussetzungen, unter denen die Vertragsstaaten zu Maßnahmen der Minderheitenförderung verpflichtet sind, dass hierunter nicht auch Maßnahmen fallen, die eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Angehörigen anderer nationaler Minderheiten oder Angehörigen der Mehrheit darstellen.
In Deutschland stellt Artikel 3 des Grundgesetzes sicher, dass die von den Vertragsstaaten nach Absatz 2 zu treffenden Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland den Anforderungen des Absatzes 1 entsprechen. Für Angehörige des Mehrheitsvolks ist es selbstverständlich, ihre Kultur und Tradition zu leben und ihre Sprache zu lernen, in ihr unterrichtet zu werden, sich ihrer Sprache zu bedienen. Für eine zahlenmäßig weit kleinere nationale Minderheit oder Volksgruppe im Staatsvolk müssen mit Hilfe des Staates die Voraussetzungen für das Leben in einer eigenständigen Kultur, Sprache und Identität gesichert werden. Deutsche Staatsangehörige nationaler Minderheiten und Volksgruppen bedürfen daher staatlicher Unterstützung, um für ihre angestammte Kultur und Identität in Deutschland gleiche Chancen zu haben.
Maßnahmen des Staates, die der Pflege der kulturellen Identität und der Sprache dieser Volksgruppen dienen, bezwecken daher die Gleichstellung mit der Mehrheitsbevölkerung. Sie steilen damit keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz dar. Der Staat darf adäquate Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung von Angehörigen der nationalen Minderheiten und Volksgruppen mit den Angehörigen der Mehrheit dort ergreifen, wo es notwendig und angemessen ist. Hierbei ist den spezifischen Bedingungen der jeweiligen Minderheit Rechnung zu tragen.
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